Mit Kindern wachsen von Jon und Myla Kabat-Zinn
- Simon Zaugg
- 22. Sept.
- 4 Min. Lesezeit
Achtsamkeit – nicht bloß ein Trend, sondern eine Haltung, die den Familienalltag transformieren kann. Ein Lesetipp.
Mit Kindern wachsen hat mir eindrücklich gezeigt, dass achtsames Elternsein nicht nur ein theoretisches Konzept ist, das man irgendwo in einem Buch liest und dann schnell wieder vergisst. Es geht darum, die kleinen Momente im Alltag bewusster wahrzunehmen – beim gemeinsamen Spielen, beim Abendessen, beim Schlafen gehen oder auch einfach, wenn man zusammen im Zug sitzt. Das Buch hat mir klar gemacht, dass Achtsamkeit nicht erst dann beginnt, wenn alles ruhig und perfekt ist, sondern gerade dann, wenn es hektisch wird. Sie findet in den echten Situationen statt: wenn das Kind etwas erzählt, während ich eigentlich gedanklich noch bei der Arbeit bin, oder wenn es lacht und ich kurz innehalte, um wirklich zuzuhören.
Als ich das Buch vor ein paar Wochen begonnen habe, war ich anfangs skeptisch: Wie sollte Achtsamkeit inmitten des täglichen Chaos leuchten? Und dennoch – Schritt für Schritt, Kapitel für Kapitel wurde mir klar: Achtsamkeit ist die feinste Verbindung, die wir mit unseren Kindern leben können.
Worum geht’s?
Jon und Myla Kabat-Zinn verbinden langjährige Achtsamkeitspraxis mit authentischen Geschichten aus dem Familienleben:
Sie zeigen, dass Elternschaft ein Dynamischer Tanz ist – ein bewusster Austausch zwischen Eltern und Kind, statt reaktiver Kontrolle.
Rituale und bewusste Routinen werden als verbindende Kraft betont – ob gemeinsame (Stille-)Momente, Mahlzeiten oder Feierlichkeiten.
Disziplin wird nicht als harte Anweisung, sondern als Ausdruck von Mitgefühl und Empathie verstanden – compassionate discipline.
Im Epilog werden konkrete Vier Achtsamkeitspraktiken, Sieben Intentionen und Zwölf Übungen für achtsames Elternsein vorgestellt – ganz konkret im Alltag einsetzbar.
Was heisst das im Alltag?
Ich schreibe diesen Artikel bewusst mit etwas Abstand zu der Zeit, in der ich das Buch gelesen habe. Das gibt mir die Möglichkeit zu reflektieren, wie ich selbst Achtsamkeit inzwischen lebe und welche Rituale sich tatsächlich in meinen Alltag geschlichen haben. Ich glaube, dass ich sagen kann: Ich lasse mein Handy heute viel öfter bewusst liegen, wenn ich mit den Kindern zusammen bin. Nicht, weil ich es „muss“, sondern weil ich den Moment wirklich erleben möchte. Das führt manchmal zu Augenblicken, in denen mir langweilig wird – früher hätte ich das sofort mit Scrollen überbrückt. Heute merke ich: Genau diese kurzen Pausen schenken mir Ruhe, aus der ich neue Kraft schöpfen kann.
Ich versuche auch, den Kindern noch aufmerksamer zuzuhören, wenn sie etwas erzählen oder mir etwas zeigen wollen. Und wenn ich sie nicht sofort verstehe – was immer wieder vorkommt –, frage ich nach, bis ich es nachvollziehen kann. Das gibt unseren Gesprächen Tiefe und zeigt den Kindern: Ich bin wirklich da, mit voller Aufmerksamkeit.
Meine 4 wichtigsten Aha-Momente
Elternschaft als bewusster Tanz
Elternsein ist kein Programm. Es ist ein lebendiger Tanz. Mit Präsenz und Offenheit lassen sich Bedürfnisse erkennen und viel bewusster darauf eingehen.
Rituale verbinden
Ob ein stiller Augenblick vor dem Einschlafen oder bewusste Blicke beim Abendessen – Rituale schaffen Nähe und füllen den Alltag mit Wärme und Verbundenheit.
Disziplin mit Mitgefühl
Disziplin bedeutet nicht Härte, sondern liebevolle Führung. Kindern mit Verständnis zu begegnen, statt mit Strenge, bringt Respekt und innere Sicherheit.
Achtsamkeit als konkrete Praxis
Die vier vorgestellten Übungen – etwa „Jetzt-Momente bewusst wahrnehmen“, „Präsenz praktizieren beim Kind“, „Akzeptanz üben“ und „Reagieren statt Reagieren“ – sind im Alltag einfach umzusetzen und schenken neue Verbindungsmomente.
Viele inspirierende Beispiele
Jon und Myla Kabat-Zinn erzählen in Mit Kindern wachsen – Die Praxis der Achtsamkeit in der Familie nicht nur, was Achtsamkeit bedeutet, sondern sie zeigen es durch konkrete, oft sehr intime Alltagsszenen. Myla beschreibt zum Beispiel, wie sie nachts ihr Neugeborenes stillt und diese Momente nicht als Unterbrechung empfindet, sondern als Einladung, ganz präsent zu sein. Sie spricht von der Wärme des Kindes, vom Rhythmus des Atems und davon, wie diese Augenblicke zu kleinen Meditationen werden.
Ein weiteres Beispiel sind kurze Rituale, sogenannte „Gathas“, die Kinder und Erwachsene gemeinsam sprechen. Sie bestehen aus ein paar Zeilen über Sonne, Herz und Achtsamkeit, begleitet von einfachen Handbewegungen. Diese Mini-Rituale geben dem Tag Struktur, schaffen Nähe und schenken Kindern ein Gefühl von Sicherheit.
Auch spätere Lebensphasen werden beschrieben: Wenn ein Teenager spät nach Hause kommt, sich wortlos dazulegt und nach körperlicher Nähe sucht, schildern Jon und Myla, wie sie in solchen Momenten Ärger und Müdigkeit bewusst loslassen und stattdessen den Kontakt genießen. Genau diese ehrlichen, nicht perfekten Szenen machen das Buch so stark. Sie zeigen, dass Achtsamkeit nicht in einer idealen Welt stattfindet, sondern mitten im echten Familienleben, mit all seinen Höhen und Tiefen.
Natürlich sind das nicht Szenen, die wir in unserem eigenen Familienalltag eins zu eins nachstellen würden. Sie dienen eher als Inspiration und Erinnerung daran, dass auch die chaotischen und müden Momente Teil des Ganzen sind. Wenn das Baby nachts schreit, ist die Realität nun einmal oft: Die Eltern sind müde, wollen eigentlich nur schlafen und reagieren aus dem Bauch heraus. Und das ist auch völlig in Ordnung. Achtsamkeit heißt nicht, perfekt entspannt zu bleiben, sondern sich immer wieder daran zu erinnern, präsent zu sein – so gut es eben in diesem Moment geht. Die Hektik wird bleiben, der Lärm auch. Aber je öfter es gelingt, selbst in stressigen Momenten kurz innezuhalten, durchzuatmen und den Augenblick zu genießen, desto mehr Leichtigkeit und Tiefe kann in den Familienalltag einziehen.
Warum dieses Buch gerade jetzt so wertvoll ist
In einer Welt voller Ablenkungen, digitaler Reize und Leistungsdruck geraten wir Eltern leicht in den Autopilot. Dieses Buch erinnert uns daran: Achtsam sein ist keine Extra-Aufgabe, sondern die bewusstste Art des Seins mit dem, was gerade ist. Es lädt ein, wenige bewusste Atemzüge mitten im Chaos zu machen – und genau da beginnt Unverstelltheit, Nähe, Verbindung.
Was bleibt hängen?
Achtsamkeit und Familie ist kein Ratgeber voller To-do-Listen, sondern ein einfühlsamer Begleiter. Die vielen Beispiele aus dem Leben der Autorin und des Autors sind sehr anschaulich und einfühlsam beschrieben. Es erinnert uns: Elternschaft ist kein Zustand, sondern ein bewusst gelebtes Werden – jedes Mal im nächsten Atemzug neu.
Für wen ist dieses Buch?
Das Buch ist ideal für dich, wenn du…
bewusst Nähe und Tiefe im Familienalltag leben willst statt nur organisierte Zeit „mit Kind“
achtsame Verbindung statt oberflächlichem Agieren suchst
dir Achtsamkeit im Alltag vorstellen kannst – nicht als Esoterik, sondern als Beziehungsgeste
Weniger passend ist das Buch, wenn du eher checklistenartig geführt werden möchtest – das Buch lädt zum Mitfühlen und Mitdenken ein, nicht zum Abhaken.